1. Traditioneller Alkoholkonsum
Im allgemeinen geht der Genuss alkoholischer Getränke mit der
Entwicklung des Ackerbaus einher, da die Getränke zumeist aus in
Kulturen gezogenen Pflanzen gewonnen werden. Dennoch gab es bereits
in präkolumbischer Zeit im Südosten der Vereinigten Staaten auf
der Basis von wilden Pflanzen hergestellten Alkohol. Die im Rausch
erlebten Träume und Gefühle wurden allgemein einem
übernatürlichen Ursprung zugeschrieben und für gewisse
Unternehmen als unerlässlich erachtet.
Bei den Pima und Papago im Südwesten der Vereinigten Staaten war
die Trunkenheit im Rahmen des jährlichen Regentanzes von großer
Bedeutung. Aus dem Saft der Früchte verschiedener Kakteen wurde ein
gegorenes Getränk gewonnen. Die Trinkenden glaubten, dass sie -im
Sinn übertragener Magie- beim Trinken von Alkohol die Bildung von
Wolken auslösen, die alsbald bersten und die Welt mit Wasser
sättigen würden.
Die Tarahuamare in Nord-Mexiko bereiteten aus Mais eine Art Bier zu.
Im Südwesten der Vereinigten Staaten ließen Indianer mit Wasser
vermischtes Bohnenmehl gären, während im Südosten aus
verschiedenen Früchten oder Mais alkoholische Getränke hergestellt
wurden (Bramly, S. 82).
Getränke mit einem höheren Alkoholgehalt, als ihn z.B. Bier hat,
waren bei den nordamerikanischen Indianern vor ihrer Einführung
durch europäische Kolonisten also unbekannt.
2. Geschichtlicher Abriss der Einführung und
Gewöhnung an Alkohol
Jedes mal, wenn jemand nach den Gründen für die Destruktion des
nordamerikanischen Indianer sucht, ist es ganz gewöhnlich, dass der
Alkohol als eine der prinzipiellen Ursachen zitiert wird. Bestimmt
war dies die Meinung der frühen französischen Jesuiten, die
versuchten, die indianischen Stämme von Neufrankreich (das heutige
östliche Kanada) zu bekehren. Für sie war Alkohol das
Haupthindernis zum Erfolg ihrer Mission.
Obwohl der Gedanke, dass Alkohol den Indianer zerstörte, seit den
Tagen der Jesuiten akzeptiert worden ist, wird oft übersehen, dass
Alkohol nicht die alleinige Ursache für den Rückgang der
indianischen Kulturen war, denn auch andere Elemente der
europäischen Kultur hatten eine gewaltige Wirkung auf die
Indianer. Es ist somit unmöglich, den Effekt von europäischen
Kulturcharakterzügen von anderen zu isolieren (Epke, S. 70).
Anfangs wurde der Alkohol durch das Pelzhandelsgewerbe eingeführt.
Wie auch immer lief, es schnell darauf hinaus, dass weitreichende
soziale, ökonomische und politische Implikationen für die Indianer
auftraten.
Bei der Auswertung des Stellenwertes von Alkohol in der Geschichte,
war es in allgemeiner Sicht gültig, den Alkohol als
"Übeltäter" zu verurteilen, und den Pelzhandel als eine
absolute (wirtschaftliche) Notwendigkeit zu akzeptieren. Trotz der
Gefahr von - sowohl weltlicher wie kirchlicher - Bestrafung, war es
unrealistisch, den Verkehr von Alkohol einzuschränken, denn ohne
einen erfolgreichen Pelzhandel konnte die französische Kolonie keine
Zahlungsfähigkeit gewährleisten. In anderer Hinsicht wäre es
keine Lösung gewesen, wenn die Franzosen den Alkohol, ganz aus
ihren Handelsbeziehungen mit den Indianern herausgenommen hätten,
denn es gab keine Übereinkünfte mit den anderen europäischen
Kolonialmächten über die Einstellung von Handelspraktiken. Die
Indianer hätten sich also anderweitig versorgen können.
Die gewöhnliche Verteilung von Alkohol hatte den Sinn, indianische
Treue und Verbundenheit aufrechtzuerhalten und neue Freunde oder
besser gesagt Handelspartner zu erhalten. Freilich schimpften die
Jesuiten über das, was sie als vollkommene Verderbung der Indianer
ansahen, doch war ihnen nicht mehr möglich, als für das
totale Alkoholverbot einzutreten. Entsprechend kam es zu einem
Konflikt zwischen kirchlicher Ideologie und Ökologie.
Zumeist wurde an Indianer nicht der Alkohol ausgeschenkt, den die
Kolonisatoren selber konsumierten, da er ihnen als zu gut für die
Indianer erschien. Entsprechend waren bald die merkwürdigsten
Rezepturen im Umlauf, so wurde z.B. reiner Alkohol mit Tabaksaft
vermischt, um ihm Farbe zu geben, dazu kam Pfeffer und
Schlangenköpfe, um einen beißenden Geschmack zu erreichen und
etwas Öl, um der Flüssigkeit etwas die Schärfe zu nehmen.
Einige Händler mischten auch Zucker unter den "Alkohol",
um die Indianer daran zu gewöhnen (Jeier, S. 165).
Gebeugt durch den Druck der Kirche stimmte die koloniale Verwaltung
schließlich dem Stop des Alkoholhandels an die Indianer zu und
einige Gouverneure Neufrankreichs versuchten, die Beschränkung
gerichtlich durchzusetzen. Trotz dieser Maßnahmen fuhren die
Indianer damit fort, Alkohol zu konsumieren. Und während für
die Weißen der Grund für die Zerstörung der Indianer direkt im
Alkohol selber lag, so waren es für die Indianer vielmehr die
Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, um an Alkohol zu
gelangen, z.B. die langen Wege zu den Handelszentren. Dies wirkte
sich zerstörerisch aus - nicht nur für jene, die die Reise
unternahmen, sondern auch für jene, die in den Dörfern
zurückgelassen wurden. Selbst wenn sie gar nicht nach Alkohol
verlangten, versuchten Pelzhändler, die 200 bis 300 Meilen reisten,
sie trotzdem mit Alkohol zu versorgen. Fälle, in denen Alkohol in
die Dörfer mitgebracht wurde, konnte aus indianischer Sicht nicht
als zerstörerisch bezeichnet werden, sofern der Alkohol zum Erfolg
von Festen beitrug, in die gemeinsame Aktivitäten und familiäres
Verhalten miteingeschlossen waren (Epke, S. 84).
Interaktionen mit Weißen waren dabei immer zum Nachteil der
Indianer, die ihren Wunsch nach Alkohol nicht oder nur schwer
kontrollieren konnten. Selbst wenn ihnen kein Geld oder
Gleichwertiges zur Verfügung stand, versuchten sie Schulden zu
machen, so dass sie für Wochen nichts für ihre Felle als
Gegenleistung verlangen konnten. Entsprechend litten indianische
Familien im Winter an Hunger oder brachen auseinander, weil der Mann
nicht für die Familie sorgen konnte. Mitunter verließen Indianer
sogar ihre Heimat, weil sie nicht hoffen konnten, jeweils ihre
Schulden abzutragen.
Als Indianer für die Abschaffung des Alkoholhandels plädierten,
war dies entsprechend auch ein Plädoyer für den Abbruch jeglichen
Kontaktes mit den Weißen. Alkohol wurde zu einem Symbol für den
Kontakt mit den Weißen und dessen demoralisierenden Folgen (Epke,
S. 85).
Entsprechend wurde von vielen indianischen Führern der Alkohol
abgelehnt, aber viele Indianer erkannten von sich aus die Gefahren
des Alkohols. Der irokesische Religionserneuerer Handsome Lake
dürfte wohl der bekannteste Prediger gegen den Alkoholismus gewesen
sein. Er, der selbst einmal ein Alkoholiker war, sicherte mit seiner
Religion das Überleben des Irokesenvolkes und schränkte den
Alkoholgebrauch mit Beginn des 19. Jahrhunderts bei den
Irokesen ein (Epke, S. 82).
Auch der Shawnee-Häuptling Tecumseh, der alle indianischen Stämme
einigen und eine Art "Vereinigte Indianerstaaten" aufbauen
wollte, hatte dem Alkohol abgeschworen, nachdem er selbst einmal
volltrunken war und baute seinen Widerstand gegen die Weißen auf
einer antialkoholischen Basis auf.
Ebenso lehnten und lehnen messianische und andere Bewegungen wie die
Geistertanzbewegung oder die "Native American Church"
Alkohol strickt ab, wobei die Geistertanzbewegung nicht nur den
Alkohol, sondern generell alles weiße Kulturgut ablehnte, während
die "Native American Church" selbst die halluzinogene
Droge Peyote gebraucht, um sich in Rauschzustände zu bringen (Slater/Albrecht,
S. 358). Ein Argument dabei ist z.B., dass man für den Peyotegenuß
und die damit zusammenhängenden Zeremonien in einer Gruppe sein
muss, während man Alkohol alleine trinken kann und somit vereinsamt
(Jeier, S. 174). Auch in der jüngeren Vergangenheit haben
Teile der Indianerbewegung immer wieder Boykottaufrufe gegen Alkohol
erlassen (Incomindios-Bulletin u.a.).
Auch baten Indianer die Weißen, den Alkoholhandel einzustellen.
Somit übertrugen sie dem weißen Mann die Bürde, den Handel mit
Alkohol zu stoppen. Hier dürften die Wurzeln einer langen
historischen Abhängigkeit der Indianer von den Weißen begraben
liegen. Falls der weiße Mann sich nach den (indianischen) Regeln
der Ehre gerichtet hätte, so hätte er den Verkauf stoppen sollen
und müssen. Weil er das nicht tat, wälzte der Indianer alle Schuld
auf ihn und den Alkohol ab (Epke, S. 88).
Auch als die meisten Stämme in die Reservationen gebracht worden
waren, verschwand der Alkohol nicht aus dem Gesichtskreis der
Indianer. Im Gegenteil, die Verlockung war größer denn je, und die
enttäuschten und entwurzelten Indianer griffen willig nach dem
Alkohol, um ihren Kummer zu ertränken. Trotz des 1832 erlassenen
"Indian Prohibition Act" (Ferguson, S. 347) wurde auf den
Reservationen getrunken und nach der Parzellierung der Reservationen
auch Grundbesitz im Sinne des Wortes versoffen.
Besonders nach Beendigung des 2. Weltkriegs wurde der Alkohol zum
großen Problem auf den Reservationen. Im festen Gefüge der Armee
waren viele Indianer zum ersten Mal anerkannt worden. In ihrer
Heimat, auf den Reservationen, waren Anerkennung und Orden mit einem
Schlag nichts mehr wert und sie sanken zurück in die Anonymität
ihres enttäuschten Volkes. Viele verkrafteten diese Umstellung
nicht, sie wurden zu Trinkern, die sich am Rande der Reservation in
Ghettos sammelten (Jeier, S. 170).
Der diesbezüglich wohl bekannteste Fall durfte der des
Pima-Indianers Ira Hayes sein, der als hochdekorierter
"Held" aus dem Pazifikkrieg zurückkehrte und später
regelrecht in der Gosse endete.
Das Alkoholverbot für Indianer wurde 1953 aufgehoben (Baumann, S.
247; Ferguson, S. 348; Jeier, S. 169), nachdem ein blühender
Schwarzhandel für Alkohol auf den Reservationen entstanden war (Jeier,
S. 167). Auf vielen Reservationen blieb aufgrund von
Interventionen des Stammesrates das Alkoholverbot jedoch erhalten
und so änderte sich nichts an der Lage (Jeier, S. 171).
Heute gibt es ganze Städte an den Grenzen von Reservationen
(sog. "bordertowns"), die vom Verkauf von Alkohol an
die Indianer leben. Dies führt auch dazu, dass die ökonomische
Situation auf Reservationen schlecht bleibt, weil neben einer
fehlenden Infrastruktur, die es ermöglicht, überhaupt Geld im
Reservat auszugeben, auch das meiste Geld für Alkoholkäufe die
Reservation verlässt. Entsprechend gibt es auf einigen
Reservationen die neuere Überlegung, Alkohol zu legalisieren und
von dem eingenommenen Geld Entzugsprogramme durchzuführen (also den
Teufel mit Beelzebub auszutreiben). Die Frage, wieso die Indianer
denn nicht selber angefangen haben, Alkohol herzustellen, nachdem
ihnen das ökonomische Abhängigkeitsverhältnis von den Weißen
klar wurde, kann nur hypothetisch beantwortet werden. Zum einen fehlte
es den Indianern am Know-how, wie man hochprozentigen Alkohol
herstellt und die Händler hatten auch kein Interesse daran,
darüber Auskünfte zu erteilen und in der Folge ihre Kunden zu
verlieren. Zum anderen ist es nicht nur lukrativer, sondern auch
einfacher gewesen, Fässer oder Flaschen mit Alkohol zu den Indianer
zu schaffen, als komplette Destillieranlagen.
Nach dem Alkoholverbot von 1832 wäre das sowieso mit größeren
Schwierigkeiten verbunden gewesen und die zu jener Zeit als einzige
noch freien Indianer, die unsanktioniert Alkohol hätten herstellen
können, hatten andere Probleme, bzw. verfügten auch nicht über
den dazu nötigen Ackerbau.
3. Die Integration des Alkohols in die indianischen Kulturen
Warum trank der Indianer?
Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, diese lässt sich nur durch
die Analyse der Beziehungen zwischen Indianern und Weißen
feststellen. Einer der am meisten objektiven Punkte ist die
vollkommen neuartige körperliche Sensation, die der Alkohol mit
seinen physiologischen Folgen auf den Körper ausübt. Viele
Indianer mögen unter dem Einfluss von Alkohol gedacht haben, sie
wären akzeptierte, ehrenhafte Personen geworden, z.B. große
Redner. Zweitens bietet sich die Vermutung an, dass einige Indianer
Alkohol gebraucht haben, um somit für Gewaltakte entschuldigt zu
sein, die sie sonst unterdrücken hätten müssen.
Drittens lässt sich anführen, dass - als die Weißen mehr und mehr
Kontrolle über die Indianer bekamen - die früheren
integrationsfördernden Gruppenaktivitäten wie Kriegszüge und
andere Gemeinschaftssanktionen durch die Suche nach Alkohol ersetzt
wurden. Der letzte und vielleicht wichtigste Punkt dürfte sein,
dass Alkohol die Erreichung von Träumen und Visionen förderte,
welches eine der am höchsten bewerteten Erfahrungen war. Durch den
Alkohol, war es dem Indianer möglich, einen hohen Zustand von
Ekstase zu erreichen, wie es vorher nicht möglich gewesen war.
Obwohl die Indianer diese intensive emotionalen Ausdrücke als wahre
Form von menschlicher Erfahrung interpretierten, erschien dies aber
den Europäern und besonders den Jesuiten uneinsichtig und blieb, wie
Parkman schrieb - ... ein Unhold mit allen Kriminalitäten und
Sorgen zu Folge: und tatsächlich könnte nichts Irdisches einer
abscheulichen Grabinschrift besser dienen als eine Indianerstadt auf
dem Höhepunkt von betrunkenen Ausschweifungen. Diese Orgien hörten
nicht eher auf, bis der letzte Tropfen der Flaschen entleert
war." (Parkman, F.: The Old Regime in Canada, London, 1909, S.
388, zitiert nach Epke, S. 88-89).
Gerade der zuletzt genannte religiöse Ansatz ("Es wird
getrunken, um Visionen zu haben"), findet sich immer wieder in
der Literatur, so dass zu untersuchen wäre, ob es sich dabei
bereits um ein Klischeebild handelt. Trotzdem war die Akzeptanz des
Alkohols in indianischen Kulturen nicht einheitlich. Wurde er in
verschiedenen Kulturen nahezu nahtlos integriert und in vorhandene
Rituale eingebaut und damit sakralisiert ("Trink-Alles-Feste"),
so lehnten andere indianische Stämme den Alkohol als sakrales
Instrument ab und änderten ihre Zeremonien u.a. nicht ab.
Stattdessen wurde lediglich "profan" getrunken. Wieder
andere Indianer lehnten den Alkohol zwar als destruktiv ab,
konsumierten ihn aber trotzdem und gaben die Schuld den Produzenten.
Auch wird oft der Fehler gemacht, den Stellenwert des Alkohols als
Tauschobjekt überzubewerten. Man darf nicht vergessen, daß Alkohol
nur eines von den vielen Produkten war, die von den Europäern
eingeführt wurden, daneben wurden ebenso eiserne Töpfe, Gewehre
u.a. verhandelt. Der psycholgische Effekt des "Neuen" war
z.B. bei Gewehren nahezu der Gleiche wie beim Alkohol.
Blitz und Donner aus den alten Musketen waren für die Indianer ein
ebenso neues Phänomen wie die Wirkung hochprozentigen Alkohols.
Ebenso darf nicht vergessen werden, dass Kulturen nicht statisch
sind, sondern laufend Neues in sich aufnehmen und integrieren. So
wie die indianischen Kulturen den Alkohol auf die eine oder andere
Weise integrierten, taten es die Europäer z.B. mit Kaffee und Tabak,
wobei Tabak den Indianern länger bekannt war als den Europäern,
die ihn zum ersten Mal bei den Indianern sahen. Da das Rauchen von
Tabak bei Indianern oft im Mittelpunkt einer religiösen oder
kulturellen Handlung stand und Tabak bei allen Zusammenkünften,
Einladungen und Beratungen verteilt würde, glaubten die Indianer
dasselbe vom Alkohol. Sie tranken ihn bei jeder Gelegenheit (sofern
Alkohol vorhanden war) und hielten ihren Krug sogar in alle vier
Himmelsrichtungen, bevor sie tranken. Viele Indianer waren auch der
Meinung, dass man den Alkohol so schnell wie möglich trinken
müsse, um möglichst schnell betrunken zu werden (Jeier, S. 160).
Der Effekt oder die Macht des Alkohols wurde von den Indianern nicht
verstanden; der Rauschzustand war in der Kategorie des
Übernatürlichen eingeschlossen. Unter dessen Einfluss wurde der
betrunkenen Person vollkommene Freizügigkeit zugestanden; er konnte
so handeln wie er es sich wünschte, selbst, wenn er beabsichtigte,
eine Person zu töten. Dies war die identielle Handlung, die sich
zwangsläufig aus seinen Träumen ergab, die unter allen Umständen
erfüllt werden mussten (Epke, S. 76).
Weitere Aspekte, die den Alkohol für den Indianer
"interessant" machten, waren:
- Die vollkommen neuartige körperliche
Faszination des Alkohols
- Die Vermutung, dass Alkohol missbraucht wurde,
um unterdrückte Wünsche ungestraft in Erfüllung gehen zu
lassen
- Der Ersatz von Kriegszügen und gemeinsamen
Stammesaktivitäten durch die Suche nach Alkohol, um die
Identität der Gruppe zu bewahren
- Von großer Bedeutung war für die Indianer des
Nordostens der Vereinigten Staaten die Traumdeutung. Der
Gebrauch von Alkohol, um eine bewusste und schnellere
Traumdeutung erlangen zu können, war für den Indianer von
hoher wertmäßiger Erfahrung (Epke, S. 69).
Dabei stellen sich drei zentrale Fragen:
- Welches Verhalten unter den Indianern wurde
durch den Einfluss von Alkohol gekennzeichnet?
- War dieses Verhalten neu im "Indian Way of
Life"?
- Wie hat der Indianer dieses Verhältnis
beurteilt und im Besonderen, ob es zerstörerische Wirkung auf
ihn hat?
Zur ersten Frage ist anzumerken, dass (weiße)
militärische Befehlshaber häufig über den Alkoholmissbrauch ihrer
indianischen Hilfstruppen klagten. Alkohol galt als Ursache für die
häufigen Befehlsverweigerungen und die Ausschreitungen von
körperlicher Gewalt. Manchmal waren ganze Dörfer von Trinkgelagen
betrunken, die so lange dauerten, wie Alkohol vorhanden war,
normalerweise 3 bis 4 Tage, manchmal aber auch länger als 2 Wochen
(Epke, S. 72).
Die durch Trunksucht verursachte Unordnung schliesst die Unmoral mit
ein. "Zur körperlichen Gewalt muss gesagt werden, dass die
durch Trunksucht verursachte Unordnung die Unmoral miteinschliesst.
Junge Männer würden versuchen, Mädchen betrunken zu machen, um
sie anschließend verführen zu können oder sie würden sich beide
bewusst betrinken und sich gegenseitig belästigen. Der Trunksucht
wird vielmals auch die Schuld für das Auseinanderbrechen von
Familien gegeben" (Epke, S.73)
Die zweite Frage kann man auch dahingehend umstellen, welche
Verhaltensmuster sich infolge des Kontaktes mit den Weißen von
selbst manifestiert haben, auch, wenn Alkohol niemals eingeführt
worden wäre. Weil man keine alleinige Lösungsantwort erwarten
kann, sollte man daran gehen, die Verhaltensmuster jener Zeit der
ersten Kontakte mit den Weißen zu untersuchen.
Zuerst einmal kann man (in einigen indianischen Kulturen) die Art
des Essens beobachten und besonders die Gewohnheiten (bei sog.
Iß-Alles-Festen) alles auf einmal während einer einzigen Mahlzeit
aufzuessen. So wird es klar, dass nur der Alkohol neu war und nicht
die Praxis, alles auf einmal zu konsumieren. Die "Brandyfestmähler"
hatten die gleichen Grundmuster wie die "Iß-Alles-Feste"
(Epke, S. 74). Ebenfalls waren Zankereien und Morde vor der
Einführung von Alkohol nicht unbekannt.
Zur dritten Frage ist klar zu sagen, dass es viele Indianer gab, die
glaubten, dass der Alkohol die Ursache für viele Unfälle war und
das er eines Tages ihre Zerstörung zur Folge haben könnte. Manche
Indianer begannen von sich aus ein gewisses Maß an Disziplin zu
entwickeln und Strafen gegen Trunkenheit festzulegen. Doch herrschte
auch hier der Glaube vor, dass man den Indianer nicht verurteilen
könne, solange der weiße Mann ihn trotz gegenteiliger Bitten
weiterhin mit Alkohol versorgte. Es lag somit aber auch am Indianer,
eine Entschlossenheit zu zeigen, um damit die Nachfrage zu stoppen.
Doch waren die Indianer nur wenig mit solchen ökonomischen Gesetzen
vertraut, sondern orientierten ihr Verhalten an moralischen Gesetzen
wie Ehre und Vertrauen (Epke, S. 82-87). Der Alkohol hat keine neuen
Verhaltensweisen als solche eingeführt. Natürlich wurden einige
bereits vorhandene Verhaltensmuster intensiviert, genauso wie die
Häufigkeit des Alkoholismus zunahm und die Routine verstärkt
wurde. Das einzig gänzlich neue Verhalten, das dem Alkohol
angelastet werden kann, ist der Rauschzustand mit seinen Folgen und
die Sucht nach Alkohol (Epke, s. 82).
Dennoch wurde Alkohol z.T. nahtlos in indianische Kulturen
adoptiert, wovon Alkoholfeste zeugen. So wurde z.B. auf einem
kleinen Handelsposten im Nordosten der USA von 1800 bis
1807 77 große Alkoholfeste gezählt (Jeier, S.
161) und auch bei gewissen Zeremonien wurde tüchtig getrunken
(Ferguson, S. 351). Hinzu kommt in moderner Zeit der Teufelskreis
von Arbeitslosigkeit und Alkoholkonsum. Alkoholismus, der schon eine
tragische Rolle auf den Reservationen spielt, wird bei Indianern in
den Städten zu einem noch größeren Verhängnis. Auf den
Reservationen ist der Verkauf von Alkohol (noch) verboten, in den
Städten dagegen sind alkoholische Getränke überall und jederzeit
zu erwerben und die Versuchung, Sorgen, Einsamkeit und Heimweh über
Whisky und Gin zu vergessen, sind groß. Trunkenheit führt jedoch
zu kleineren kriminellen Delikten, zur Unpünktlichkeit bei der
Arbeit und zu Entlassung und damit beginnt ein Teufelskreis, der
immer weiter ins Elend fährt (Epke, S. 92). Da zuwenig
Arbeitsplätze in der Stadt vorhanden sind, geraden die indianischen
Zuwanderer auch schnell in finanzielle und Wohnungsprobleme.
Unterbeschäftigung, Alkoholismus, Ehestreitigkeiten und
gelegentliche Kriminalität werden für die weißen Städter zum
Synonym für indianische Lebensweise und alte Vorurteile finden
damit ihre Bestätigung. Damit abklassifiziert und in einer
Situation des sozialen Umbruchs, der Hoffnungslosigkeit,
Enttäuschung und Isolation, versuchen viele Indianer, das
würdelose Alltagsleben im Alkohol zu vergessen (Epke, S. 90-91).
Ein weiteres Element, warum Indianer in der Stadt trinken, ist der
kulturelle Stress, dem sie zwischen ihrer und der weißen Kultur
ausgesetzt sind (Incomindios). Auch Gruppendruck führt - nach
Ansicht von Indianern - zwangsläufig dazu, dass getrunken wird, ob
der Einzelne nun will oder nicht (Incomindios). Wer dazugehören
will, muss eben auch mittrinken.Dabei wird den jeweils anderen
Mitgliedern der Trinkgemeinschaft (Peer-group) so lange ausgegeben,
wie man selber etwas zu trinken hat. Ist eine Flasche leer, ist
derjenige, der noch Geld hat, verpflichtet, eine neue zu kaufen und
dies wiederholt sich, bis kein Mitglied der Peer-Group Geld mehr bei
sich hat (Baumann, S. 261). Für gelegentliche Stadtbesucher hat
Alkoholkonsum eher den gleichen Stellenwert wie andere urbane
Vergnügen.
4. Stereotypen über den "Drunken Indian"
und deren Wahrheitsgehalt
Sehr weit verbreitet ist das Stereotyp des ewig betrunkenen
Indianers, egal ob er sich auf der Reservation oder in der Stadt
aufhält, welches viele Missverständnisse aufwirft und zu damit
verbundenen bzw. daraus resultierenden politischen (Miss-)
Strategien führt.
Allgemein kennt man das an der Oberfläche wirkende Bild eines
hoffungslosen, machtlosen Indianers, der keine Alternative sieht,
als Armut, Zerstörung seiner Kultur und die Unterminierung seiner
Familie im Alkohol zu ertränken. Eine offizielle Kenntnisnahme
dieser Missstände seitens der US-Regierung wurde zwar durch die
zeitweilige Einführung einer Prohibition für Indianer (1832 bis
1953) zum Ausdruck gebracht, griff aber nicht durch. Im übrigen ist
es bezeichnend für das Stereotyp des 'drunken Indian', dass von den
zu Rate gezogenen Quellen lediglich eine den Beginn dieser
Prohibitionszeit erwähnt, während nahezu alle das Ende dieser Zeit
und die daraus resultierenden Konsequenzen ausführlich abhandeln
und sich nicht scheuen, die Klischeebilder aufzugreifen. (Vgl.
Baumann, S. 247; Ferguson, S. 348; Jeier, S. 169)
Man kann mehrere führende Stereotypen zugrundelegen:
- Indianer vertragen keinen Alkohol!
Diesem Klischee liegen die biologisch begründeten Faktoren der
Alkoholresistenz zugrunde. Wissenschaftliche Untersuchungen
sollen bewiesen haben, dass verschiedene Völker der Erde
Alkohol unterschiedlich verarbeiten, d.h. der
Stoffwechselprozess anders vonstatten geht. Dabei bleibt
zweifelhaft, ob Alkohol nicht auf jedes Individuum
unterschiedlich wirkt und ob mit diesem Stereotyp ganze Völker
oder 'Rassen diskriminiert werden.
In der Trivialliteratur liest man dann folgendes: "Aber es
lag nicht nur an der Menge, daß die Indianer mehr unter der
Wirkung des Alkohols litten als die Weißen. Aus unerfindlichen
und bisher unerklärlichen Gründen stehen sie dem feurigen
Wasser auch heute noch physisch schwächer gegenüber,
vielleicht ein Erbe ihrer asiatischen Herkunft, und selbst
starke und hochgewachsene Indianer sind schon nach zwei, drei
kleinen Gläsern Schnaps betrunken. Sie werden leichter süchtig
als die meisten Weißen und waren im vergangenen Jahrhundert
schon nach wenigen Tropfen bereit, gegen ihre Tabus zu
verstoßen, ihre Götter zu verfluchen oder ihre eigenen
Verwandten zu massakrieren. Der Alkohol machte sie zu
willenlosen Menschen und schaltete jedes Denkvermögen
aus." (Jeier, S. 160-61)
Man hat diese Theorie in Zusammenhang mit dem angeblich
exzessiven Alkoholkonsum der Indianer gebracht. Es wurde also
alles zwangsläufig vorausgesetzt, dass wenn der Indianer trinkt,
er aufgrund seiner niedrigen Resistenz unbedingt die Grenzwerte
überschreitet und somit immer in einem Vollrausch verfällt,
sich also gezwungenermaßen Probleme, die aus dem Alkoholkonsum
resultieren, ergeben. Dasselbe Argument jedoch wird auf der
anderen Seite genau dafür verwandt, den geringen Alkoholkonsum
von Asiaten zu erklären. Sie vertragen also ebenso wenig
Alkohol wie Indianer (und haben angeblich darüber hinaus
gemeinsam genetische Grundmerkmale) trinken aber genau deswegen
weniger. Es besteht also keine unbedingt logische Konsequenz
zwischen der Verträglichkeit von Alkohol und dem
Konsumverhalten, bzw. seinen Auswirkungen.
- Alkoholismusraten sind extrem hoch bei
indianischen Völkern!
Grundsätzlich besteht das Problem, ein genaues Maß für
Alkoholismus anzulegen, (wer ist und wer ist kein Alkoholiker).
Der Meinung vieler entsprechend ist Alkoholkonsum als solcher
und/oder rauschähnliches Verhalten noch kein Kriterium, für
Alkoholismus. Wo die Grenzen liegen, ist so ziemlich von der
individuellen Interpretation anhängig. Dieser These kann
entgegen gehalten werden, dass man Promille erreichen kann und
somit über ein konstantes Kriterium verfügt, doch ist es
einseitig, Alkoholismus ausschließlich über medizinische
Indikatoren zu definieren und jegliche soziale Faktoren bei der
Definition außer acht zu lassen. Eine rein medizinische
Definition ist zwar nicht grundfalsch, aber auch nicht
objektiver oder genauer als andere Definitionsansätze.
Generalisierungen über den Alkoholkonsum in indianischen
Gemeinden sollte man sowieso nicht anstellen, da es extreme
Unterschiede beim Alkoholkonsum zwischen und innerhalb
indianischer Stämme gibt. Vergleicht man darüber hinaus
Statistiken mit dem nationalen Durchschnitt, findet man genauso
Stämme, deren Rate weit darüber hinaus geht wie auch ebenso
viele andere Stämme, die weit unter dem Durchschnitt liegen.
- Alkoholismus stellt das Hauptproblem der
indianischen Völker dar!
Es besteht bei diesem Stereotyp die Gefahr, das Hauptaugenmerk
isoliert auf den Alkoholismus als solches zu richten, d.h. ihn
nicht in Zusammenhang mit sozioökonomischen und politischen
Verhältnissen zu sehen. Selbst bei Stämmen, die große
Alkoholprobleme haben, lässt sich kaum feststellen, ob diese
aus der Alkoholsucht als solches resultiert, oder auf
verschiedene soziale, ökonomische, kulturelle und/oder
politische Faktoren zurückzuführen sind. Die Ursachen der
Alkoholprobleme werden entsprechend oft mit folgenden Aspekten
in Verbindung gebracht:
- den Schwierigkeiten der Integration in eine
nicht-indianische Gemeinschaft;
- mit ethnischen Vorurteilen, bzw. Rassismus;
- schlechtem Gesundheitszustand;
- Arbeitslosigkeit und niedrigem sozialen
Status;
- fehlender Autonomität, bzw. fehlender
Kontrolle und Einfluss in der eigenen Gemeinschaft;
- Kindererziehung, Gesetzgebung, Kirche und
Gesundheitswesen.
Maßnahmen gegen den Alkoholismus sind z.B.
sogenannte 'Treatment-Programs'.
Diese sollte man jedoch nicht als Allheilmittel sehen oder
benutzen, um alle Probleme kanalisieren und als Alkoholabhängig
zu behandeln. Die Gesamtproblematik ist zu komplex, um sie
durch eine einseitige Betrachtung des Alkoholproblems zu
erklären.
Entsprechend könnte man genauso gut generalisieren, dass die
moderneren nordamerikanischen Indianer aufgrund ihres
Alkoholkonsums zur Fettleibigkeit tendieren - obwohl dies auf
die Ernährung (zu viele Kohlehydrate und Zucker) zurückzuführen
ist.
- Die Indianer sind zu naiv, um Alkohol
abzulehnen. Es ist ein weitverbreitetes Stereotyp, dass die
Europäer den Alkohol eingeführt haben und somit die Wurzel
allen Übels sind, obwohl die Indianer den Alkohol überhaupt
nicht wollten, ihm sich aber nicht verwehren konnten. Dies zeugt
für die naive Darstellung der Indianer, der nicht einschätzen
kann, was man ihm gibt und welche Auswirkungen es auf ihn hat.
Weiterhin wird den Indianern hierbei unterstellt, nicht mit den
entsprechenden ökonomischen Gesetzen von Angebot und Nachfrage
vertraut gewesen zu sein, als der Alkohol als Handelsgut für
ihre Pelze eingeführt wurden.
Dass dieser Ansatz auch von indianischen Autoren vertreten wird
(vgl. Incomindios-Bulletin, S. 27-32), zeugt von der
Uneinigkeit der Indianer, denn hier stellt sich einer über den
Rest, behauptet, den diesbezüglichen Durchblick zu haben und
kategorisiert den Rest seiner eigenen Leute als naiv ab.
In der Trivialliteratur liest sich die Naivität etwa so:
"Die Männer gaben ihm Whisky, und der Indianer schüttete
die braune Flüssigkeit begierig in sich hinein. Amüsiert
betrachteten Hudson und seine Leute, wie der Eingeborene schon
nach kurzer Zeit die Augen verdrehte, lallend an Land torkelte
und bewusstlos am Ufer zusammenbrach. Am nächsten Morgen
stolperte er ins Lager, wo er mit seinem Klagen und Stöhnen
alle Schlafenden weckte. Seine Stammesbrüder umringten in
neugierig und er erzählte ihnen von einer feurigen
Flüssigkeit, die ihn in einen Rauschzustand versetzt und ihn
ins Land der Geister geführt hätte. Die Indianer sahen ihn
erstaunt an, dann traten sie ans Ufer und blickten dem
davonfahrenden Schiff der Fremden mit großen Augen nach. Der
Ort des seltsamen Geschehens nannten sie 'Manhattan', Platz der
Trunkenheit".(Jeier, S. 159) Diese gängigen Stereotypen
lassen sich auch entkräften:
- Die Art und Weise, sowie der Zeitpunkt des
Gebrauchs von Alkohol variiert sehr unter Indianern.
Grundsätzlich ist das stereotypisierende Bild des 'drunken
Indian' in seinen verschiedenen Facetten anders. Man
kategorisiert: das rauschähnliche Verhalten schon bei
geringen Dosen von Alkohol; da exzessive Saufgelage über
viele Stunden oder mehrere Tage - welches dann wieder durch
tage- oder wochenlange Abstinenz abgelöst wird-; das
Gruppentrinken, bei dem man von einer Kneipe in die andere
zieht, wozu das Verschaffen von Alkohol gehört, bis die
letzten finanziellen Mittel erschöpft sind; im Rausch
erfährt man dabei ein 'time-out' Element, d.h. man verhält
sich im Rauschzustand so, wie man es normalerweise weder tun
noch von sich oder anderen akzeptieren würde.
Dass diese 'drinking patterns' generell existieren, kann man
nicht gänzlich abstreiten. Der springende Punkt ist eher,
dass es sich dabei nicht unbedingt um ein typisch
indianisches 'drinking pattern' handelt; man findet die
gleichen Verhaltensweisen genauso häufig bei
nichtindianischen Gruppen. Darüber hinaus trinken viele
Indianer nach der Methode der weißen Mittelklasse, d.h.
gezielter Alkoholkonsum zu einem ausgesuchten Ort- und
Zeitpunkt, bei dem sich das daraus resultierende Verhalten
nicht von dem im nüchternen Zustand unterscheidet. Auch
gibt es Indianer, die gänzlich Anti-Alkoholiker sind. Für
eine weitere Relativierung des Stereotypes spricht die
Beobachtung, dass ein und derselbe Indianer sowohl weiße,
als auch indianische Trinkgewohnheiten, sowohl als auch
Abstinenz zu verschiedenen Zeiten seines Lebens vereinbaren
kann, abhängig von sozialen Gegebenheiten seiner eigenen
Präferenz oder lebensprägenden Ereignisse.
- Der Genuss von Alkohol steht oftmals im
Zusammenhang mit tragischen oder freudigen Ereignissen.
Diese These entkräftet das Klischee der grundlosen,
permanenten Sauferei. Positive Aspekte des Alkoholismus
können u.a. sein: Alkohol als Ritual des sozialen
Miteinanders und als Mittel zur Stabilisierung sozialer
Netzwerke; Begünstigung des Wohlbefindens und Abbau von
Stress und Hemmungen. 'lndian drinking' kann als soziale
Eintrittskarte für die Gruppenintegration fungieren. Das
Betrinken dient zur Bewältigung, bzw. als Alternative zu
Stress und Trauer. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der durch
das Trinken erträglicher wird, ist der interkulturelle
Konflikt zwischen der indianischen und der dominanten
weißen Kultur mit ihren entsprechend unterschiedlichen
Werten und Normen, dem der Indianer (nicht nur in der Stadt)
permanent ausgesetzt ist und durch den er nicht selten in
eine Identitätskrise gerät.
Der Alkoholismus dient hier als Ventil und als Legitimation
für jegliches Verhalten, weil der 'drunken Indian'
zumindest von seinem Volk als Person nicht verurteilt wird
(Schuld an der Existenz von Alkohol hat schließlich der
Weiße). Indem der indianische Trinker den Erwartungen des
Weißen vom 'drunken Indian' entspricht, kann er
gleichzeitig signalisieren, dass sich an diesem Zustand
nichts ändern wird, solange die herrschende weiße
Gesellschaft die Wirtschaft und Selbstbestimmung der
indianischen Gemeinschaften dominiert und soweit
einschränkt, dass die Indianer ihre eigene ethnische
Identität nicht ausleben können (Westermeyer, S. 25).
- Der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und
bestimmten auf Alkoholeinfluss beruhenden Problemen ist eher
zufällig als kausal und steht nicht wie gern angenommen
wird in direkter Wechselbeziehung zueinander.
Hier wird die isolierte Betrachtungsweise des
Alkoholproblems besonders deutlich, da man z.B. dass Maß an
Gewalttätigkeit unter Indianern zugrundelegt, um es alleine
auf steigenden Alkoholkonsum zurückzuführen, also wiederum
das Alkoholproblem als das eigentliche, einzige Problem
hochstilisiert.
Beispielsweise sind bei den Navajo und den White Mountain
Apachen seit 1880 die Selbstmord- und Mordraten konstant
geblieben, wohingegen der Alkoholkonsum konstant angestiegen
ist. Der allgemein angenommenen kausalen Beziehung zwischen
Aggressivität und Gewalttätigkeit unter dem Einfluss von
Alkohol kann also entgegengetreten werden.
Ein weiteres Beispiel bieten die Motive für Festnahmen. So
werden Indianer in Haft genommen für aus ihrer Sicht
akzeptierbares und legitimes sozial und moralisch
vertretbares Verhalten, dass jedoch von der herrschenden
Gesellschaft als illegal angesehen wird, wobei der
Festgenommene natürlich unter Alkohol steht. Mitunter
werden betrunkene Indianer auch aus Gründen der
'Straßenreinhaltung' festgenommen (Fergusson, S. 350). Dies
ist ein Indikator für die verschiedenen Werte von Kulturen
und ihre Differenzen, die gerne als Alkoholprobleme
klassifiziert werden. Im Zusammenhang mit der
Alkoholursachenforschung sollte also dem sozi-kulturellen
Kontext, sowie Religion, wirtschaftlichen Aspekten,
politischen Angelegenheiten usw. ein größeres Gewicht
beigemessen werden.
- Es bestehen beträchtliche Unterschiede
innerhalb indianischer Gruppen, was die Folgen des
Alkoholismus betrifft. Trotz der generellen Schwierigkeiten,
genaue Angaben bezüglich des Alkoholkonsums, die durch
Migration oder die vielen verschiedenen indianischen
Gemeinden erschwert werden, zu machen, konnte man
Differenzen sowohl zwischen als auch innerhalb der einzelnen
Stämme feststellen. So liegt z.B. die Sterbequote der
Navajo an Leberzirrhose unter dem nationalen Durchschnitt,
wohingegen sie bei den Hopi und White Mountain Apachen weit
höher als der nationale Durchschnitt ist. Die
Selbstmordrate unter den Shoshone, Bannock, Cheyenne und
Apachen liegt weit über dem nationalen Durchschnitt,
während bei den Ojibwa und Navajo die Rate relativ gering
ist. Innerhalb eines Stammes treten dort mehr
Leberzirrhosefälle auf, wo die Indianer gute Beziehungen
für den Zugang zum Alkohol vorfinden. Hier muss vor
generellen Aussagen gewarnt werden, die für alle Indianer
gelten sollen.
- Alkoholismus - definiert durch körperliche
Anhängigkeit, welche am Entzugssyndrom festgemacht wird
oder im Sinn klassischer Krankheitssyndrome - gibt es unter
Indianern. Mann kann sich fragen, in welcher Gesellschaft
das anders ist, doch geht diese These wiederum auf die
Definition, bzw. Interpretation des Alkoholismus ein.
Es tritt das Problem auf, das Alkoholismus als eine echte
auf psychische Ursachen beruhende Krankheit zu begreifen und
die Opfer nicht mit dem negativen Image eines Säufers zu
degradieren. So steht es insbesondere dem Indianer scheinbar
nicht zu, sich als Kranker zu definieren und entsprechende
Unterstützung bzw. Akzeptanz zu erwarten. Doch dies ist ein
generelles Problem im Umgang mit Alkohol und Alkoholismus,
auch ein Deutscher darf sich nicht unbedingt als krank
bezeichnen, sondern wird von der Gesellschaft eher als
Säufer abgetan und entsprechend abgelehnt.
- Indianer mit Alkoholproblemen können von
einem 'treatment program' profitieren, sofern er auf sie
Rücksicht nimmt. Wenige der zuständigen Institutionen für
Entzugsprogramme wollten indianische Patienten aufnehmen,
weil die Erfahrungen zeigten, dass wenige oder keine Erfolge
erzielt wurden.
Die Ursache dafür liegt aber weniger an der Mentalität der
Patienten selbst, sondern daran, dass die nicht-indianisch
orientierten Behandlungsprogramme nicht die kulturellen und
sozialen Werte, Traditionen und Gewohnheiten der Indianer
berücksichtigten. Seitdem Indianer jedoch selbst aktive
'treatment programs' planen und durchführen, steigt die
Zahl der Entzugswilligen und auch die Erfolgsquote (vgl.
Kap. 4 und 5 Westermeyer)
- Die Fallstudie eines 'treatmentprograms'
Ein 'treatment programm' mit Navajo-Indianern entstand aus der
angeblichen Notwendigkeit der Stadt Gallup, New Mexiko, die
monatlich eine Zahl von ca. 6750 Festnahmen wegen Trunkenheit
aufwies. Von den Inhaftierten waren 90 % Navajos, die z.T.
festgenommen wurden, weil sie sich in einer Art 'black out'
Zustand befanden und nichts weiter als eine Gedächtnislücke
aufwiesen.
Gallup hatte zu dieser Zeit (um 1964) eine steigende
Bevölkerung von ca. 17.500 Menschen und über 40 Bars, die
besonders am Wochenende nach dem Einkauf als Treffpunkt der
Bewohner der umliegenden Gemeinden fungierten. Die Stadt bot
dabei den Alkoholkonsum als Vergnügen an mit dem gleichen
Stellenwert wie andere urbane Vergnügen (Kinobesuch z.B.). Bei
den Navajo kann keinesfalls von einem größeren Suchtproblem
als im Vergleich zu anderen ethnischen Gruppen oder dem
US-Durchschnitt generell ausgegangen werden. Das Trinkverhalten
der Navajo ist nur wegen seiner öffentlichen Natur
auffälliger, da die meisten Freizeitaktivitäten im Freien
stattfinden. Festgehalten wurde auch, dass Indianer aus allen
Schichten und Altersgruppen mit dem Alkoholproblem
gleichermaßen konfrontiert waren und das der Anteil an Frauen
etwa dem der Männer entsprach. Frauen wurden jedoch seltener
inhaftiert und waren ihrerseits seltener bereit, sich an einem
Entzugsprogramm zu beteiligen. Das sich über drei Jahre
erstreckende Programm ergab, dass die der westlichen Kultur eher
angepaßten Navajos weniger gut darauf reagierten, als die
weniger assimilierten. Als Indikator für die erste Gruppe
galten dabei:
- sie verfügen über Englischkenntnisse;
- sie haben eine dem 6th Grade entsprechende
Allgemeinbildung;
- sie haben Wehrdiensterfahrung;
- sie streben nach einer festen Anstellung,
vornehmlich im technischen Mittelstand, oder gehobenen
Facharbeiter-Metier.
Diese Gruppe befand sich in einem ständigen
Konflikt zwischen ihrem eigenen Leben und der weißen Kultur. Sie
wurden oft zu hohen Erwartungen ausgesetzt.
Die weniger bzw. nicht dem Status einer weißen Gesellschaft
entsprechend gebildeten Navajos sprachen positiver auf das
'treatment program' an, was mit der geringen Eingebundenheit in die
westlich-weiße Kultur begründet wurde. Die 'Trinkertypen' wurden
dabei in zwei Gruppen kategasiert:
- die 'recreations drinkers'
sogenannte 'Freizeittrinker', die aus reinem Vergnügen Alkohol
konsumieren und/oder um das Netzwerk sozialer Beziehungen zu
stabilisieren. Ihre Abhängigkeit vom Alkohol resultiert aus dem
starken Druck, mit dem Saufkumpanen mitzuhalten und wird durch
fehlende Sanktionen seitens der Navajo gegen exzessiven Alkoholkonsum
begünstigt. Dieser Typus nimmt in der Behandlung neue Werte
bezüglich des Trinkens an und identifiziert sich leichter mit einer
anti-alkoholischen 'peer group'. 'Health Grant' ins Leben gerufen
und mit dem Projektnamen 'A Community Treatment Plan for Navajo
Problem Drinkers' ausgestattet. Die Einrichtung hatte für 120
Personen Platz, die aus den interessierten Navajo ausgewählt
wurden, die motiviert genug waren, mit dem Trinken aufzuhören und
darüber hinaus mindestens 10 mal wegen Trunkenheit inhaftiert worden
waren.
Die Untersuchungsergebnisse stützten sich insbesondere auf zwei
Quellen:
- Beobachtungen von Navjo Alkoholkonsumenten und
ihren Trinkgewohnheiten, in Verbindung mit zahlreichen
Interviews und Gesprächen mit den Problemtrinkern und ihren
Familienangehörigen;
- Erfolgsresultate und Effektivität des
Treatment Programs selbst. Dies ergab sich aus
- der subjektiven Meinung der Belegschaft
und
- objektiver aus der Rückgangsquote der
Inhaftierten und/oder der Zahl der Rückfälle seit Beginn
der Behandlung.
Die Inhalte des 'Treatment Programs' waren:
- Fünftägiger Krankenhausaufenthalt; Tests der
Organfunktionen und Vorbereitung auf das Programm;
- Verabreichung von Antebuse, einem Medikament,
welches Übelkeit verursacht, sobald man Alkohol zu sich nimmt;
- Gespräche mit den Familienangehörigen, um
diese auf die Rückkehr des Patienten vorzubereiten; Patienten
ohne Familie wurden regelmäßige Untersuchungstermine
angeboten;
- Aufsicht der Einnahme von Medikamenten und
Berichterstattung, bzw. Erfolgsmeldungen an die
Projektmannschaft durch freiwillige Mitarbeiter;
- Gespräche mit den Arbeitgebern oder
Hilfsstellen, eine neue Anstellung zu finden;
- Psychotherapie, wenn notwendig
- Beratungstreffen mit der Belegschaft, die
permanent zur Verfügung stand (das Projektbüro ist der Platz,
wo der Kaffee stets frisch ist und wo Patienten und ihre Freunde
und Verwandten ermutigt wurden, hinzukommen und zu schwatzen -
mit der Belegschaft oder miteinander, Ferguson, S. 346, was sich
ernsthaft nach Kaffeekränzchen anhört);
- Überwachen während der Bewährungszeit;
- Gruppendiskussionen mit den Patienten, die nahe
dem Projektbüro wohnen;
- Sammeln von Untersuchungsmaterial,
eingeschlossen psychologische Tests der Patienten.
Insgesamt wird am Beispiel dieses
Behandlungsprograms, das vermutlich ein Exempel statuiert, sehr
deutlich, wie pateranalistisch die Methoden angesetzt werden. Es
lässt sehr wenig darauf schließen, daß die Patienten ihre eigenen
Vorstellungen mit einfließen lassen können, bzw. dass das Programm
auf Bedürfnisse oder die eigenen ethisch-kulturellen Gegebenheiten
abgestimmt ist.
Das die Wertstellung der Psychotherapie soweit hinten rangiert und
nicht an die erste Stelle gesetzt ist, zeigt einmal mehr, dass dem
Alkoholproblem an sich wieder ein isolierter Stellenwert
zugeschrieben wird und es nicht auf soziokulturelle Zusammenhänge
hin untersucht wird.
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